Sonntag, 8. März 2015

Leinen, mehr als hundert Jahre alt

Die Frau auf dem Flohmarkt in Hannover sagte mir, sie habe dieses Teil in einer Wäschetruhe aus Schleswig-Holstein gefunden. Ein Kissenbezug sei es mal gewesen, für ein grosses Kissen allerdings. Aber wahrscheinlich kaum benutzt. Sie habe seinerzeit die Truhe eigenhändig geleert und noch andere schöne Sachen darin gefunden. Es handelte sich um eine Aussteuertruhe. Aussteuern, in stundenlanger Arbeit hergestellt, genäht, bestickt, gehäkelt - um dann  Jahrzehnte unangetastet in Schäften und Truhen zu liegen,einfach, weil das junge Mädchen dann doch nicht heiratete und es doch schliesslich schade ist, so schöne Sachen zu benutzen, wenn man ja noch nicht weiss, ob man es wohl eines Tages noch richtig braucht... - und "richtig" ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Terminus.

Reines altes Leinen. Da es etwas fest ist, taugt es nicht für feinere Dinge; eine Jacke wäre vielleicht gut. Hoffentlich reicht das Material...

Der Stoff lag, zu meiner Schande, die letzten paar Jahre wartend auf meinem Allerweltsbett, das eigentlich ein Gästebett ist und, wenn als solches nicht gebraucht, hauptsächlich dazu dient, meine Ideen aufzunehmen. Sprich, wenn ich denke, aus diesem Stoff könnte ich dieses oder jenes machen, aber im Moment keine Zeit, oder einfach keine Lust, habe, landet er auf diesem Bett, wo er mich gelegentlich daran erinnert, dass ich das ja noch vorhatte....










Jetzt wäre endlich Zeit. Zumal es Frühling wird und der Mensch eine leichte Jacke braucht.
Zwei Tage und ein paar Arbeitsstunden später sieht das ehemalige Kissen dann ganz anders aus:


Meine Schneiderpuppe fühlt sich! 


Ja, Taschen fehlen noch. Ich möchte sie mit schwarzem Leder einfassen, deshalb hab ich noch nicht weiter gemacht. Ebenso die Ärmelabschlüsse und vielleicht auch den Halsausschnitt. 

Leinen, mehr als hundert Jahre alt. Die Geschichte eines Stückes Stoff, hergestellt vielleicht in Holland, vielleicht auch im Norden von Deutschland, vielleicht aber sogar im Haushalt selber. Das habe man im 19. Jahrhundert noch vielerorts gemacht.
Eine Geschichte, die um 1870 begann. Vielleicht war sie letzten Endes tragisch. Vielleicht blieb das Mädchen unverheiratet, blieb im Haus der Eltern und entschlief schliesslich in der Bettwäsche ihrer Eltern, ohne ihre eigene Aussteuer je angerührt zu haben. Eine Truhe voll Wäsche, die nie angerührt wurde. Sowas kam vor. Wohl hatten Nachkommen des Hauses die Truhe dann auf den Dachboden gebracht. Die Tante brauche die Sachen ja nicht mehr. Und vergessen. Bis bei einem Hausverkauf, Estrichumbau, weiss Gott, was, die Truhe wieder zum Vorschein kam und dann den Weg zu einer Flohmarkthändlerin fand, die sich auf alte Stoffe spezialisiert hatte. 
Schon gut, geh ich ab und zu auf Flohmärkte!

Mehr als hundert Jahre...